Auch am Universitätsklinikum Leipzig muss über Rassismus gesprochen werden

Auch am Universitätsklinikum Leipzig muss über Rassismus gesprochen werden

Triggerwarnung: Dies ist ein Hinweis, dass im Folgenden Begriffe und Darstellungen benutzt werden, die bei von rassistischer Diskriminierung Betroffenen negative Gefühle und Erinnerungen an schmerzhafte Erfahrungen auslösen können.

Die medizinische Fakultät soll durch Ausbildung zukünftiger Ärzt*innen und Forscher*innen der Gesundheit dienen. Da aber Gesundheit nicht rein biologistisch, also ohne Beachtung der sozialen und psychologischen Einflussfaktoren, gedacht werden kann, muss diese Institution auch ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden. Dazu gehört u.a. auch die klare Bekämpfung von Rassismen.

Diese sind mehr als die bloße Diskriminierung anderer aufgrund äußerlicher Merkmale, sie stellen viel mehr ein System dar, welches die Überlegenheit und Vorteile von Weißen legitimieren und absichern soll 1 . [Ogette (2018)] Rassismen sind kein US-amerikanisches oder rechtsextremes Problem. Wir alle 2 , als Teil einer rassistisch sozialisierten Gesellschaft, deren Errungenschaften zum großen Teil auf der Ausbeutung vermeintlich anderer beruhen, haben rassistische Denkmuster internalisiert und reproduzieren diese regelmäßig – teils bewusst, teils unbewusst.

Um die unkritische Reproduktion von Rassismen in der medizinischen Lehre zu verdeutlichen, nehmen wir hier ein aktuelles Beispiel zum Anlass, um rassistische Strukturen sichtbar zu machen, und fordern jede*n in Lehre, Forschung und Klinik auf, die eigenen Denkstrukturen zu reflektieren und gegen Alltagsrassismus Stellung zu beziehen.

Folgender Fall wurde im Rahmen der Lehre des Fachs Pharmakologie den Studierenden im 6. Semester als benotete Hausarbeit gestellt:

Ein Soldat, auf Einsatz im tropischen Afrika, stellte sich in der truppenärztlichen Sprechstunde vor. Zur Malariaprophylaxe nahm er Doxycyclin-Monohydrat 100 mg/Tag compliant ein. Der Betroffene berichtete von ungeschütztem Geschlechtsverkehr mit einer Einheimischen, die er in einem Lokal kennengelernt habe. Er habe zwar eigentlich ein Kondom benutzen wollen, die afrikanische Partnerin habe dies aber mit der Begründung abgelehnt, dass sie „das so nicht möge“. In der Situation – seinem drängenden sexuellen Bedürfnis folgend – habe er ihrem Wunsch entsprochen, mache sich nun aber Gedanken um sexuell übertragbare Erkrankungen, insbesondere HIV.

In diesem Fallbeispiel wird ein stereotypisiertes Bild des ganzen afrikanischen Kontinents gezeichnet, in dem viele bekannte rassistische Klischees bedient werden. Ein Soldat ist in Afrika im Einsatz und somit in unserer Vorstellung – ohne dass dies explizit benannt wird – selbstverständlich weiß. Er möchte vernünftig sein, unterliegt aber seinem starken „sexuellen Bedürfnis“ und der Unvernunft der „Einheimischen“, also, so stellen wir uns vor, der Schwarzen 3 , mutmaßlich armen und triebhaften Frau. Afrika, so soll uns vermittelt werden – das bedeutet in allererster Linie Schwarz, arm, HIV, ungebildet, viele Kinder. Mit der Darstellung des Sexualverhaltens von Afrikaner*innen, durch welches diese sowohl in sexistischer als auch rassistischer Weise diskriminiert werden, wird uns sogar eine Erklärung für die hohe Prävalenz von HIV und die hohe Geburtenrate angeboten: Durch das Unvermögen zu verhüten seien sie eben selbst schuld, alle.

Uns ist selbstverständlich bewusst, dass hohe Prävalenzen von HIV in vielen Ländern im subsaharischen Raum eine Rolle spielen. Auch ist im Vergleich in Deutschland die Geburtenrate niedriger und das Einkommen höher. Erstens aber liegt diesen Tatsachen unsere Kolonialgeschichte mit entsprechenden Machtverhältnissen und Ausbeutungen zugrunde. Zweitens handelt es sich in diesem Fall um Einzelpersonen, die viel mehr und vielleicht auch ganz andere Eigenschaften mitbringen, als der Bevölkerungsdurchschnitt. Die wir – so stereotypisiert und einseitig unsere Denkmuster sind – womöglich gar nicht in Betracht gezogen hätten. Wenn wir über Fälle berichten, muss uns klar sein, welche Relevanz die Aussagen für die Therapie haben. Auch wenn sich einzelne Fälle tatsächlich so abgespielt haben mögen, bietet dies keine Legitimationsgrundlage, sie unreflektiert und klischeebesetzt wiederzugeben.Leider leben und lehren wir nicht in einer neutralen, diskriminierungsfreien Welt – dann würde ein solcher Fall kein Problem darstellen. So aber dürfen Fallbeispiele nicht rassistische Stereotype wiedergeben, auch wenn dies zu Lehrzwecken anschaulicher erscheinen mag.

Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass es sich hierbei nicht um einen Einzelfall handelt, sondern vielmehr beispielhaft die unreflektierte Reproduktion von Rassismen in der medizinischen Lehre widergespiegelt wird.

Internalisierte Stereotypen haben direkte Auswirkung auf die Behandlung von Patient*innen. Sie können dazu führen, dass wir – bewusst oder unbewusst – vorschnelle Annahmen treffen und falsche Diagnosen stellen [FitzGerald et al. (2017)]. Wenn wir bei einer Schwarzen Person sofort an HIV oder Malaria denken, statt andere, wahrscheinlichere Diagnosen zunächst in Betracht zu ziehen, dann ist das eine Folge von Rassismus und ein Problem für unsere medizinische Praxis. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Frau aus dem Fallbeispiel HIV hat, ist viel geringer als die Wahrscheinlichkeit, dass sie es nicht hat. In diesem Fall ist natürlich, wie nach jedem  ungeschützten Geschlechtsverkehr, an HIV zu denken. Das hat aber primär nichts mit dem vermuteten Herkunftsland oder dem Äußeren der Person zu tun. Des Weiteren sind wir als Gesundheitsarbeiter*innen mit strukturellem Rassismus als Risikofaktor für Erkrankungen konfrontiert. Zum Beispiel erfahren African Americans in den USA im Durchschnitt ein größeres kardiovaskuläres Mortalitätsrisiko als whites [Davis et al. (2007)]. Ein solcher Mortalitätsunterschied beruht nicht auf genetischen Unterschieden [Mersha et al. (2015)], sondern ist eine Folge von strukturellem Rassismus. Dieser äußert sich in einer Korrelation von Risikofaktoren, wie geringerem Einkommen und Bildungsniveau oder krankmachenden Wohnverhältnisse und Arbeitsbedingungen, mit der self-reported Race 4 . [Stepanikova et al. (2017)] Die Datenlage hierzu ist in Deutschland noch sehr schlecht. Zusätzlich sind Rassismuserfahrungen ein Risikofaktor unter anderem für psychische Erkrankungen und können so über anhaltende Stressreaktionen eine Traumatisierung zur Folge haben [Yeboah (2017)].

Statt also weiter an stereotypiserte Bilder von „Asiat*innen“, „Afrikaner*innen“, „Kaukasier*innen“ 5 gewöhnt zu werden, sollten Medizinstudierende für die strukturellen Hintergründe und sozialen Risikofaktoren sensibilisiert werden, die mit der Ungleichheit von Gesundheitschancen einhergehen.

Es ist schwer, sich von den Stereotypen in unseren Köpfen zu befreien, mit denen wir aufgewachsen sind. Da die Diversität der Gesellschaft in unserem Studiengang kaum abgebildet wird – wir sind mit überwältigender Mehrheit weiße Deutsche –, stoßen diese Denkmuster kaum auf Widerstand und müssen keiner Prüfung standhalten. Dabei haben unbewusst reproduzierte Rassismen eine ganz andere Reichweite als offene, intendierte Anfeindungen. Nicht selten werden wir in unserem Unialltag mit diskriminierenden Stereotypen konfrontiert und bemerken den darin enthaltenen Rassismus nicht, da diese kongruent sind mit dem Bild, das uns von unserer rassistisch sozialisierenden Gesellschaft mitgegeben wird. Wenn wir aber Alltagsrassismus reproduzieren, laufen wir nicht nur Gefahr, falsche Diagnosen zu stellen und die gesellschaftliche Dimension von Gesundheit zu übersehen, sondern fügen den betroffenen Patient*innen womöglich auch noch weitere Gewalt in Form von sogenannten racial microaggressions 6 zu [Yeboah (2017)]. Möchten wir also mit bestem Wissen und Gewissen unseren Beruf ausüben, müssen wir uns mit „kritischem Weißsein“ auseinandersetzen.

Kritisches Weißsein befasst sich nicht mit dem klassischen, sich selbst beim Namen nennenden „Rassismus von rechts“, sondern mit dem unbewussten und unreflektierten Rassismus aus der Mitte der Gesellschaft und dessen historischen Wurzeln. Es geht um das als Norm hingenommene Attribut des Weißseins in unserer nach wahrgenommener Hautfarbe hierarchisierten Gesellschaft. Weißsein ist in unserer Gesellschaft ein Privileg. Dieses Privileg hat seine Tradition in der Geschichte der Versklavung und des Kolonialismus, an dem auch das deutsche Kaiserreich im 19. und 20. Jahrhundert beteiligt war und welcher bereits in der Zeit der Aufklärung durch rassentheoretische Annahmen legitimiert werden sollte. Im Zuge des deutschen Kolonialismus wurden dafür v.a. auf dem afrikanischen Kontinent Menschen vermessen und die Gebeine Ermordeter der deutschen Genozide zu „wissenschaftlichen“ Zwecken missbraucht [Saini, 2019]. Ihren uns bekannteren Höhepunkt fanden die „Rassentheorie“ und die „Rassenmedizin“, die die imaginierte Überlegenheit von Weißen sichern sollten, in der Zeit des Nationalsozialismus. Viele uns bekannte Begriffe und Persönlichkeiten der medizinischen Forschung sind eng mit dieser verknüpft und bis heute nicht hinreichend reflektiert worden. [Max-Planck-Institut > Geschichte > Forschung und Aufarbeitung]

Die propagierte Einteilung von Menschen hat uns, auch in der Medizin, in Form von Vorurteilen und Rassismen ihr Erbe hinterlassen. An dieser Stelle soll betont werden: Es gibt keine Menschenrassen. Die Genomforschung hat allen Versuchen, die Menschen in Gruppen einzuteilen, einen Schlussstrich gesetzt. Die Variation unseres Genoms ist ein Kontinuum, welches über Jahrtausende durch Menschenwanderungen entstanden ist. Es gibt regional unterschiedliche Häufungen von Genomsequenzen, die einen Überlebensvorteil erlaubten, wie zum Beispiel im Rahmen der Sichelzellanämie (Malariaresistenz) [Saini (2019), Superior]. Rasse ist ein soziales Konstrukt, und Ethnien sind kulturell ähnlich geprägte Gruppen. Rassismus aber, ob intendiert oder nicht, ist ein real existierender Risikofaktor für die Gesundheit unserer Patient*innen. [Williams et al. (2019)]

Sprache formt Bilder und Hierarchien in unseren Köpfen, was zu voreingenommenem Handeln führt. Das müssen wir ändern! Wir fordern also, dass sich jede*r Mitarbeiter*in und jede*r Student*in der medizinischen Fakultät und der Uniklinik Leipzig mit den eigenen internalisierten Rassismen und deren Reproduktion auseinandersetzt. Wir fordern, dass in der medizinischen Lehre die Nicht-Existenz von menschlichen Rassen, aber die Existenz und die Auswirkungen von Rassismus gelehrt werden. Wir fordern das Institut für Pharmakologie auf, ein Statement zum oben genannten Fall auf der eigenen Website zu veröffentlichen, welches für alle Studierenden, die ihre Ergebnisse zur Hausarbeit einsenden, sichtbar ist. Dieser Fall ist nur ein Beispiel für ein strukturelles Problem. Wir können ihn jedoch auch als Anlass nutzen, um uns für einen kritischen Umgang mit Rassismus im Gesundheitswesen zu entscheiden.

Eure KritMed Leipzig

 
Bitte wendet euch umgehend an uns, wenn euch diskriminierende Sprache in diesem Text aufgefallen ist. Wir haben uns Mühe gegeben und würden uns wünschen, dass er noch diskriminierungsärmer wird. Danke!

1 – Rasissmen haben ihren Ursprung in pseudowissenschaftlichen Theorien, welche u.a. an deutschen Universitätenund von de utschen Wissenschaftler*innen entwickelt wurden, um die Ausbeutung anderer Kontinente und Menschen zu rechtfertigen [Ogette (2018)].

2 – Wir, das sind Lehrende, Studierende und Mitarbeitende der Medizinischen Fakultät und des Universitätsklinikums Leipzig.

3 – Sowohl der Begriff Schwarze als auch der Begriff People of Color sind politische Selbstbezeichnungen und beziehen sich auf die gemeinsam gemachten Rassismuserfahrungen von Menschen, es handelt sich dabei nicht um das Adjektiv schwarz.

4 – Also der eigenen Zuordnung von Patient*innen zu den von der Gesellschaft vorgegebenen rassifizierten Gruppen wie z.B. African American, Hispanics, Whites, Asian.

5 – „Kaukasier“, „Europide“; Begriffe aus der Rassentheorie, welche u.a. in der Zeit des Nationalsozialismus verwendet wurden.

6 – racial microaggressions sind kurze, alltägliche Äußerungen, die einer Person einer vermeintlich anderen Gruppenzugehörigkeit, abwertende Botschaften senden. Man unterscheidet hierbei zwischen Mikroangriffen (offensichtliche Übergriffe), Mikrobeleidigungen (klar erkennbare Unhöflichkeit) und Mikroentwürdigung (abweisende und ausschließende Mitteilungen). Sie werden zum Werkzeug von Mitgliedern dominierender Gesellschaftsgruppen, um Repressionen in der Privatsphäre auszuüben.

Literaturverzeichnis

Davis, A. M., Vinci, L. M., Okwuosa, T. M., Chase, A. R., & Huang, E. S. (2007). Cardiovascular Health Disparities. Medical Care Research and Review, 64(5_suppl), 29S–100S.

FitzGerald, C., & Hurst, S. (2017). Implicit bias in healthcare professionals: a systematic review. BMC Medical Ethics, 18(1)

Mersha, T. B., & Abebe, T. (2015). Self-reported race/ethnicity in the age of genomic research: its potential impact on understanding health disparities. Human Genomics, 9(1), 1

Ogette, Tupoka: exit RACISM: rassismuskritisch denken lernen, 5. Die Geschichte des Rassismus – oder: Wie Happyland entstand. Unrast Münster, 2019.

Saini, Angela: Superior: the return of race science. Beacon Press Boston, 2019.

Stepanikova, I., & Oates, G. R. (2017). Perceived Discrimination and Privilege in Health Care: The Role of Socioeconomic Status and Race. American Journal of Preventive Medicine, 52(1), S86– S94.

Williams, D. R., Lawrence, J. A., Davis, B. A., & Vu, C. (2019). Understanding how discrimination can affect health. Health Services Research.

Yeboah, Amma: Rassismus und psychische Gesundheit in Deutschland. Springer Fachmedien Wiesbaden, 2017, S. 143-161.

Websites

https://www.theguardian.com/world/2016/dec/25/germany-moves-to-atone-for-forgotten-genocide-in-namibia; (04.06.2020)

https://www.mpg.de/geschichte/kwg-im-nationalsozialismus (04.06.2020)