„Mund aufmachen ist angesagt“: Interview mit BIPoC Med Leipzig im GbP 3-2020

„Mund aufmachen ist angesagt“: Interview mit BIPoC Med Leipzig im GbP 3-2020

Die KritMed Leipzig haben mit der Hochschulgruppe BIPoC (1) Med Leipzig ein Interview geführt, das im Rahmen des Versuchs entstand, als eine Gruppe, die ausschließlich aus nicht von Rassismus betroffenen Personen besteht, antirassistische Arbeit zu leisten. Der Prozess begann mit einem »Alleingang« der KritMed, einen rassistischen Vorfall an der medizinischen Fakultät nach eigenem Ermessen aufzugreifen und zu bearbeiten. Daraufhin kamen Anstöße von BIPoC Gruppen, das Wichtigste sei es, bereits bestehende Strukturen von Menschen, die von Rassismus betroffen sind, einzubeziehen und ihnen mehr Sichtbarkeit zu geben. Nach diesem Lernprozess sollen, so der Wunsch der KritMeds Leipzig, nun mehr vergleichbare Zusammenarbeiten entstehen.

KritMed: Mit welcher Idee hat sich Eure Gruppe gebildet?

BIPoC Med Mina: Erreichen wollen wir alle BIPoC, die Medizin studieren. Damit sie wissen, dass sie einen sicheren Hafen haben, in den sie kommen können und einen Safe Space, in dem sie sich austauschen können und Unterstützung bekommen. Aber natürlich auch, dass andere Leute wissen, dass wir existieren, dass wir einbezogen werden können als Gruppe.

BIPoC Med Anja: Es gibt dieses Stereotyp: Medizin ist ein sehr weißer Studiengang. Das stimmt ja auch im Prinzip, aber das heißt nicht, dass er ausschließlich weiß ist. Das ist eine wichtige Differenzierung.

KritMed: Was bedeutet Antirassismus für Euch?

Anja: Ich glaube, der Kern von antirassistischer Arbeit ist, dass es nicht ausreicht zu sagen: Ich versuche, nicht rassistisch zu sein. Rassistische Strukturen existieren und wenn man nichts aktiv dagegen unternimmt, erhält man sie aufrecht. Wir müssen Rassismus aktiv abbauen. Viele sagen: Ich bin ja nicht rassistisch. Das kann schon gut sein, aber man ist trotzdem in dieser Gesellschaft aufgewachsen, die Rassismus reproduziert und die auch in vielen Aspekten auf Rassismus gebaut wurde. Und da ist es total wichtig, erstens diese Strukturen zu erkennen und zweitens sie zu hinterfragen.

Mina: Antirassismus ist für uns eine Überlebensstrategie. People of Color, die in der Medizin arbeiten, werden abgehalten von vollständiger Teilhabe, sie werden benachteiligt. Es ist immer zusätzlicher Bestandteil Deines Alltags als PoC, Dich mit diesen rassistischen Strukturen auseinanderzusetzen. Entsprechend darf man als weiße Person nicht unterschätzen, dass rassistische Strukturen abzuschaffen kein Hobby ist, sondern notwendig, um Menschen die Teilhabe an der Medizin sowohl als Patient*in als auch als Mediziner*in zu ermöglichen.

Anja: Ich hab‘ das Gefühl, dass viele sagen: Du interpretierst da Rassismus rein. Was viele nicht verstehen ist, dass für mich und andere PoC Rassismus keine Interpretation ist, sondern dass es einfach so ist. Die Annahme, dass man Distanz davon haben kann, ist eine sehr privilegierte. Viele weiße Menschen denken, dass ihre Position die Position der Neutralität ist. Und eine Position, die nicht weiß ist (das kann man auch auf andere intersektionale Identitäten ausweiten), sei irgendwie voreingenommen. Aber es sind ja im Prinzip alle Leute voreingenommen, vor allem weiße Menschen, weil sie diese Strukturen einfach nicht hinterfragen.

KritMed: Ihr habt gerade viel zu strukturellem Rassismus gesagt. Könnt Ihr sagen, wie dieser sich im Gesundheitswesen zeigt?

Mina: Das beginnt damit, dass Rassismus die Grundstruktur weißer Gesellschaften ist. Das zeigt sich dementsprechend in der Lehre. Es reicht von konkret rassistischen, teilweise wissenschaftlich falschen Aussagen, bis hin zu so Sachen, dass in der Dermatologie nur an Weißen gelehrt wird. Das setzt sich dann natürlich fort in der Weltanschauung von Ärzt*innen. Wir werden Ärzt*innen und wir werden all unsere Vorurteile mit in den Job nehmen. Jeder Mensch hat Vorurteile. Man merkt vielleicht auch selbst, dass man, wenn man Patient*innen behandelt, gleich eine Antipathie oder Zurückhaltung gegenüber jemandem hat, durch die rassistischen Ansichten, die man von den Eltern oder der Lehre mitgegeben bekommen hat. Und das pflanzt sich dann natürlich weiter fort in eine schlechtere Patient Care. In den USA, wo es gerade viel Forschung dazu gibt, zeigt sich z.B., dass die Kindbettsterblichkeit bei Schwarzen Frauen höher ist.

Anja: Ich glaube, viele Leute missverstehen strukturellen Rassismus als eine Struktur, die viel Rassismus in sich hat, aber die Struktur an sich ist rassistisch. Viel in der medizinischen Lehre basiert noch auf kolonialimperialistischen Annahmen. Sogar wenn in dieser Struktur niemand aktiv rassistisch wäre, wäre es immer noch eine Struktur, die People of Color benachteiligt.

KritMed: Ihr habt vorhin das Thema Intersektionalität angesprochen. Was ist das und wo überschneidet sich Rassismus mit anderen Diskriminierungsformen im Gesundheitssystem?

Anja: Schwarze Menschen und Frauen werden beide in der Medizin benachteiligt, aber vor allem an der Intersektion von diesen sehr vulnerablen Identitäten findet man wirklich Schwachstellen. Da kommt viel zusammen. Dass man Frauen nicht ernst nimmt, wenn sie sagen, dass sie Schmerzen hätten, und Stereotype über Schwarze Menschen, dass sie weniger Schmerzen empfänden. Das wird im Medizinstudium weitergegeben an Medizinstudierende. Da sieht man, wie tödlich das sein kann.

Mina: Weiße Studierende müssen sich vor Augen halten , dass wir Menschen damit umbringen werden, wenn wir unsere Vorteile ausleben. Menschen werden sterben, wenn wir nicht bereit sind, mehr Perspektiven zuzulassen.

Anja: Man muss die Strukturen wirklich verstehen, damit man sie nicht aus Versehen reproduziert. Es ist nicht nebensächlich, es ist nicht so wie Intubieren, das muss nicht jede*r Ärzt*in können. Hier geht es um den Kern der medizinischen Tätigkeit, weil es um Menschen geht.

KritMed: Was können explizit weiße Menschen in medizinischen Berufen tun, um Eure Arbeit zu unterstützen?

Anja: Was ich spannend finde, ist, wenn weiße Menschen den white fragility Test machen. Z.B.: »Fühlst Du Dich angegriffen, wenn Du als weiß bezeichnet wirst?«, »Fühlst Du Dich angegriffen, wenn Leute sagen, weiße Menschen sind rassistisch?«, da gibt’s ganze Listen. Ich glaube, das zeigt wirklich, wie persönlich manche Menschen so etwas nehmen.

Mina: Auch Privilegien-Check finde ich einen guten Stichpunkt. Mir würde es schon reichen, wenn weiße Studierende anfangen, ihre Privilegien zu hinterfragen. Zum Beispiel: Vor Famulaturen bereite ich mich absurd viel vor. Ich tauche da auf und bin vorbereitet auf dieses Fach. Es haben sich schon oft Leute über mich lustig gemacht, das sei ja übertrieben. Fakt ist aber, wenn ich irgendwo auftauche, werde ich als inkompetent wahrgenommen, weil ich eine Frau bin und weil ich Schwarz bin. Die Leute erwarten nicht viel von mir. Die Leute erwarten in der Regel nicht mal, dass ich Medizin studiere. Das heißt, mein Umgang damit ist, dass ich so vorbereitet bin, dass mich niemand irgendwas fragen kann, was ich nicht weiß. Ich muss mich aufs Arbeitsleben ganz anders vorbereiten. Auch schon die Wahl des PJ-Platzes. Da sind andere Leute so: »Wie viel Geld gibt es dort?«, »Wie weit ist mein Arbeitsweg?«. Ich hab nachgeguckt, wie viele People of Color im Team sind, weil ich es nicht ertragen kann, ein Jahr lang irgendwo zu arbeiten, wo nur Weiße sind, und ich mich jeden Tag mit schwerstem Rassismus auseinandersetzen muss. Und den Mund aufmachen. Immer, und wenn es nur ein rassistischer Witz war, irgendeine kleine Bemerkung. Was ich total angenehm finde, ich habe ein paar weiße Freunde, die, wenn jemand in einer Runde was Rassistisches oder Kontroverses sagt, sofort was sagen. Ich kann mich dann einfach zurücklehnen und sagen: Ok, ich muss das jetzt nicht machen, es ist gerade nicht mein Fight. Diese Einstellung sollten sich Medizinstudierende aneignen. Solange ich immer noch höflich lache, wenn der Oberarzt z.B. das N-Wort benutzt oder einen unangemessenen Witz macht, bestärke ich denjenigen natürlich damit.

Anja: Und alle in diesem Raum merken das auch, es wird bestärkt und ist irgendwie akzeptabel.

Mina: Jede anwesende Person of Color fühlt sich dadurch natürlich auch extrem unwohl, was dann wieder verstärkt, dass sich weiße Räume bilden. Klar, wenn ich so etwas miterlebe, und es sagt keiner was außer mir, dann werde ich da nicht mehr hingehen. Und dementsprechend ist einfach den Mund Aufmachen angesagt.

KritMed: Was wünscht Ihr Euch für die medizinische Lehre?

Anja: Ich würde mir wünschen, dass das Thema Rassismus in die medizinische Lehre integriert wird. Wenn ich wissen muss, welche Aminosäure an irgendwas gekoppelt ist, muss ich auch wissen, dass Rassismus meine Medizin beeinflusst. Das muss fächerübergreifend thematisiert werden. In der Schmerzmedizin muss thematisiert werden, dass Schwarze Menschen nicht adäquat schmerztherapiert werden. In der Dermatologie muss thematisiert werden, dass Menschen mit dunkler Haut häufiger an Melanomen sterben, weil das schlechter erkannt wird. Es muss wirklich in allen Bereichen als das gesellschaftsübergreifende Thema, was es ist, behandelt werden. Und dass man benennt, dass auch Rassismus, die Folgen von Rassismus und die Folgen von institutionalisiertem Rassismus Soziale Determinanten von Gesundheit sind. Das passiert alles nicht in einem Vakuum, das kommt irgendwo her. Und wo es herkommt, ist meistens Kolonialimperialismus.

Mina: Und auch die Lehre wird von Intersektionalität profitieren. Zum Beispiel im Rahmen der Gynäkologie bei Frau Prof. Dr. Aktas, Chefärztin der Gyn. Sie macht eine super gute Lehre, und die bieten jetzt auch in unterschiedlichen Sprachen Sprechstunden an, und sie ist in der Sprechstunde darauf bedacht, dass Menschen mit Migrationshintergrund ausreichend abgeholt werden.

Anja: Das Ding ist, dass wir einfach bessere Medizin betreiben, wenn wir intersektional arbeiten. Es ist ja nicht nur aus politischer Korrektheit, sondern wirklich aus Liebe zum Fach. Und das heißt, dass ich einen Anspruch habe, dass dieses Fach und diese Institution sich bessern.

Mina: Ich glaube, wir ruhen uns in Deutschland darauf aus, dass wir eine relativ freie und solidarische Gesellschaft sind. Aber ich bin der Meinung, es gibt immer Raum für Verbesserungen, es gibt immer Luft nach oben. Und das ist auch das, was wir als Mediziner*innen anstreben sollten. Dass nicht nur die Lehre, sondern auch unsere Praxisimmer besser wird.

kritMed Leipzig, c/o: Student_innenRat der Universität Leipzig; BIPOC Hochschulgruppe Leipzig: Facebook: Bpoc Hochschulgruppe Leipzig, Instagram: bipoc.uni.leipzig

1) BIPoC = Black, Indigenous, People of Colour – Selbstbezeichnung von Menschen die Rassismuserfahrungen machen.

(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Rassimus im Gesundheitswesen, Nr. 3, Oktober 2020 https://gbp.vdaeae.de/index.php/185-2020/2020-3/1290-gbp-3-2020-hochschulgruppe-bipoc-leipzig )